Anna kratzt (Leseprobe)

Kratzen, kratzen. Immer wieder graben ihre Nägel kleine Furchen in den Spann ihres linken Fußes. Sie hat ihren Strumpf nicht ausgezogen und sieht nun staunend zu, wie sich winzige blutrote Punkte bilden.
Mutter wird wieder missmutig drein schauen, denkt sie.

Das kleine Mädchen sitzt seit Stunden auf der kalten Kellertreppe. Wenn sie sich von ihrer Mutter unverstanden fühlt, zieht sie sich dorthin zurück. So wie an diesem Morgen. Ihre Mutter hatte beim Frühstück wieder erwähnt, dass sie nun bald in einer eigenen Wohnung leben werden. Ihr Blick war dann immer so stolz und voller Freude. Und ihre geliebte Großmutter hatte genickt und ihre faltige Hand auf die Schulter der Tochter gelegt. Nur Anna hatte keiner dazu befragt. Sie war ja auch erst sieben Jahre alt.

Anna kratzt. Ihre Wut, ihre Trauer, ihre Tränen kratzt sie in ihren Fuß, der mehr und mehr blutet und langsam auch zu schmerzen beginnt. Umziehen bedeutet, ihr Zuhause bei Großmutter verlassen, mit ihrer Mutter allein zu wohnen.

Unvorstellbar für Anna. Seit sie sich erinnern kann, ist ihre Großmutter der Mittelpunkt in ihrem kleinen Leben. Jeder Morgen beginnt und jeder Abend endet mit ihr. Aber bald kommt Anna zur Schule. Ihre Mutter meint, dass sie dann ein eigenes Zimmer und vor allem einen geregelten Ablauf braucht. Anna versteht das nicht. Die Tage mit ihrer Großmutter sind Tage voller Geschichten, Ausflüge und Hausarbeit. Sie singen beim Fensterputzen oder tanzen mit Schrubber und Besen über die Flure. Ihre Großmutter erzählt von Früher und manchmal sogar von ihrem Großvater, dem geheimnisvollen Mann, den Anna nie kennenlernen konnte.

Am Abend, wenn ihre Mutter von der Arbeit kommt, haben sie gekocht und essen gemeinsam. Ihre Mutter ist oft müde und weniger gut gelaunt. Anna wartet still bis ihre Mutter sie nach ihrem Tag fragt.

Manchmal vergisst sie es. Dann streicht Großmutter ihrer Enkelin liebevoll über das helle, meist zerzauste Haar.